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Der Brief als Akteur

Deutsches Literaturarchiv Marbach, Heinrich-Heine Universität, Düsseldorf, Gesellschaft für Exilforschung

 

Der Brief als Akteur

Konzeptualisierungen von Wirkungsmacht in Brieferzählungen des Exils.

 

Beitrag von Heike Klapdor zur Konferenz 29. 9. – 1. 10. 2022 über

Textualität, Materialität, (Inter)Medialität in Korrespondenzen des Exils

 

Als passageres Medium sui generis rückt der Brief ins Zentrum der passageren Krisen-Existenz ‚Exil‘. Er wird zum Medium der Krisenbewältigung. Der Brief-Autor als Akteur macht den Brief zum Akteur. Die Dimension des Adressaten existentieller brieflicher Appelle begrenzt die Wirkungsmacht des tatsächlichen Briefs.

Der fiktionale Brief überschreitet diese begrenzte Wirkungsmacht. Die vom Autor beherrschte Wirkungsmacht des literarischen Brieftopos gewinnt im Exilkontext realer Entmächtigungs-/Ohnmachtserfahrung der Vertriebenen und Flüchtenden den Status eines exemplarischen heterotopischen Handelns: Anna Seghers‘ Erzählung Post ins Gelobte Land (1943/44, e 1946, New York) und Kathrine Kressmann Taylors Briefroman Address Unknown (1938, New York) lassen sich als literarische Realisierungen einer in Macht gewendeten Ohnmacht lesen. In beiden Texten agiert der Brief als Akteur, seine Wirkungsmacht schreitet die Grenzen aus: sie verfügt über Leben und Tod. Die Briefe, die in Seghers‘ Erzählung der auf den Tod erkrankte Sohn auf Vorrat aus dem besetzten Paris an den alten Vater in Jerusalem schreibt, sind ein Akt der Vitalität, des Widerstands gegen die Vernichtung. Kressmann Taylors Briefe dagegen sind ein Akt der Vernichtung. Die Autorin imaginiert die destruktive Macht des Briefs als einer Waffe. In den literarisch tradierten Mustern der Briefintrige und des Täuschungspotentials der Briefromanform vernichten die fingierten Briefe, die ein jüdischer Kunsthändler aus Kalifornien nach München schickt, den nationalsozialistischen Empfänger, den zum Verräter und Feind gewordenen ehemaligen Freund. Kressmann Taylors Briefnovelle „Address unknown“ ist wie seine Verfilmung 1944 als Anti-Nazi Film im Kontext der innenpolitisch adressierten amerikanischen Filmpolitik eine Ermächtigungsphantasie.

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